LTI by Victor Klemperer

LTI by Victor Klemperer

Autor:Victor Klemperer [Klemperer, Victor]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783159607092
Herausgeber: Reclam Verlag


[225]XXIX Zion

Mit Seliksohn standen wir auf Tauschfuß: er war Diabetiker und brachte uns Kartoffeln gegen winzige Fleisch- und Gemüsemengen. Ich habe nie recht begriffen, weswegen, und es hat mich immer ein bißchen gerührt, daß er uns beiden bald wirkliche Sympathie entgegenbrachte, obschon er alles Deutschtum haßte und jeden deutschen Patrioten unter den Sternträgern – es gab nur noch wenige darunter – für einen Narren oder Heuchler hielt. Er selber war in Odessa geboren und erst mit vierzehn Jahren während des ersten Weltkrieges nach Deutschland gekommen; sein Ziel hieß Jerusalem, trotzdem oder, wie er es ausdrückte, weil er eine deutsche Schule und Hochschule besucht hatte. Mich suchte er immer wieder von der Sinnlosigkeit meiner Stellungnahme zu überzeugen. Bei jeder Verhaftung, jedem Selbstmord, jeder Todesnachricht aus den Lagern, also so oft wir zusammenkamen, und das geschah immer häufiger, da wir immer eifriger diskutierten, jedesmal hieß es: »Und Sie wollen noch immer Deutscher sein und sogar Deutschland lieben? Nächstens werden Sie noch Hitler und Goebbels eine Liebeserklärung machen!«

»Die sind nicht Deutschland, und Liebe – das trifft auch nicht den Kern der Sache. Heute habe ich übrigens was Hübsches zur Sache gefunden. Ist Ihnen einmal der Name Julius Bab unterlaufen?«

»Ja; einer von den Berliner Literaturjuden, Dramaturg und Kritiker, nicht wahr?«

»Also von dem steht in Steinitz’ Bücherschrank, Gott weiß wie dahin verschlagen, ein Privatdruck. Ein halbes Hundert Gedichte, nur für seine Freunde als Manuskript veröffentlicht, weil er sich nicht als wahrhaft schöpferischer Lyriker fühle und immer die übernommene Melodie hinter den eigenen Versen spüre. Eine sehr anständige Bescheidenheit und wirklich am Platze; man merkt durchweg bald George, bald Rilke, der Schnabel ist ihm mehr geformt als gewachsen. Aber eine Strophe hat mich doch so angefaßt, [226]daß ich die gekünstelte Abhängigkeit beinahe ganz vergaß. Ich habe sie im Tagebuch notiert, ich lese sie Ihnen vor und werde sie bald auswendig kennen, so oft denke ich daran; zwei an Deutschland gerichtete Gedichte, das eine von 1914, das andere von 1919, beginnen beidemal mit demselben Bekenntnis:

Und liebst du Deutschland? – Frage ohne Sinn!

Kann ich mein Haar, mein Blut, mich selber lieben?

Ist Liebe nicht noch Wagnis und Gewinn?!

Viel wahllos tiefer bin ich mir verschrieben

Und diesem Land, das ich, ich selber bin.



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